Atlas Shrugged wurde 1957 von Ayn Rand veröffentlicht. Der
Titel leitet sich aus der griechischen Mythologie ab, wo der Gigant Atlas die
Welt auf seinen Schultern trug und unter der Last litt. Im Buch sind es die
Wertschöpfer (konkret: die Industriellen), die in der heutigen Zeit die Last
der Wohlstandsschaffung auf ihren Schultern tragen und von den staatlichen
Umverteilern permanent mit Steuern/Abgaben bestraft, wenn nicht sogar via
gesetzliche Interventionen teilweise enteignet werden. Die These des Buches
ist, dass Atlas einfach mit der Schulter zucken („to shrug“) und die Welt
fallen lassen sollte. Die Wertschöpfer sollten in Streik gehen, damit die Sozialschmarotzer
sehen, wie es ihnen ohne die Wertschöpfer geht.
Vor allem in den USA hat sich ein Mythos um Atlas Shrugged gebildet. Von manchen
wird behauptet, dass es nach der Bibel das meist verkaufte Buch ist. Auf jeden
Fall gilt es als eines der einflussreichsten politischen Bücher des 20.
Jahrhunderts. Viele konservative Amerikaner sehen es als das kapitalistische
Äquivalent zum Kommunistischen Manifest
von Marx & Engels und haben das Buch in Kultstatus erhoben. Seit der
Finanzkrise sind die Verkaufszahlen des Buches wieder rasant angestiegen.
Der österreichische Nationalökonom Ludwig von Mises schrieb
der Autorin kurz nach Veröffentlichung des Buches folgendes: „Atlas Shrugged ist mehr als nur ein Roman. Es
ist auch (oder sollte ich vielleicht sagen, es ist vor allem?) eine
überzeugende Analyse jener Übel, die unsere Gesellschaften plagen; eine
fundierte Absage der Ideologie unsere selbsternannten ‚Intellektuellen‘ und
eine schonungslose Entlarvung der Unaufrichtigkeit der Politik unserer Regierungen
und politischen Parteien. Sie haben den Mut bewiesen, den Menschen das zu
sagen, was ihnen kein Politiker sagen würde, nämlich: ‚Ihr seid minderwertig;
jede Verbesserung Eures Lebensstandards, die Ihr für selbstverständlich
erachtet, schuldet Ihr jenen, die tüchtiger sind als Ihr!‘“ (es überrascht
nicht, dass Atlas Shrugged von
Intellektuellen, auch von Intellektuellen des konservativen Lagers, abgelehnt bzw. ‚vernichtet‘ wurde und nach wie vor wird).
Der Grundbaustein der Autorin Ayn Rand, auf dem alles andere
aufbaut, ist der Verstand des Menschen; die Fähigkeit des Menschen, rational zu
denken („reason“). Im Reich des Verstandes gibt es keine wirklichen, sondern
bestenfalls wahrgenommene Widersprüche. Dort, wo Widersprüche wahrgenommen
werden, liegt die Ursache bei fehlerhaften Prämissen, die es mit dem Verstand
zu überprüfen gilt. Check your premises! ist der Wahlspruch des Buches. An der
Einhaltung dieses Wahlspruches muss auch das Buch gemessen werden.
Darüber hinaus ist im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der
Autorin auch die Frage, in wieweit sie selbst in ihrem persönlichen Leben nach
der von ihr leidenschaftlich vertretenen Philosophie lebte, von überragender
Bedeutung. Einem Alkoholiker ist es gestattet, mit einem Bier in der Hand
andere vor dem Alkoholkonsum zu warnen. Immerhin kann er andere glaubhaft davor
warnen, so zu werden wie er. Ein fanatischer anti-Alkoholiker hingegen, der den
Alkoholkonsum verteufelt, darf niemals
mit einem Bier in der Hand ertappt werden. Ein solcher Faux-pas wäre weder
rational noch moralisch vertretbar. Schon gar nicht bei einem Philosophen bzw.
‚Prediger‘ einer neuen Moralität. Dieser muss die von ihm selbst postulierten
Maßstäbe einer neuen Moral beispielhaft vorleben. Der von Ayn Rand entwickelte Objektivismus
erlaubt keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis; zwischen den
Überzeugungen eines Menschen und seinen Handlungen.
Laut Ayn Rand ist es der Verstand, der den Menschen dazu bringen
muss, sich von herkömmlichen (falschen bzw. zu verurteilenden) Moralvorstellungen
zu lösen und zu erkennen, dass es nicht das öffentliche bzw. gemeinschaftliche Interesse, sondern nur
das Eigeninteresse ist, das dem Menschen den pursuit of happiness ermöglicht. Der Einzelne darf nicht erwarten,
dass andere auf einen Teil ihres Lebens verzichten, um ihn glücklich zu machen.
Er darf auch nicht auf einen Teil seines Lebens verzichten, um andere glücklich
zu machen. Sich selbst glücklich zu machen, ist die größte Verantwortung des
Menschen sich selbst gegenüber. Herkömmliche
Moralvorstellungen, so Ayn Rand, sehen es als menschliche Pflicht, anderen zu
dienen; möglicherweise sich sogar im Zuge dessen für andere aufzuopfern. Für
Ayn Rand gibt es dafür keine rationale Erklärung bzw. Rechtfertigung.
Schon Adam Smith hat den rational
self-interest als Antrieb der Wertschöpfung erkannt. Das ist für Ayn Rand
nicht deutlich genug – sie pocht auf Egoismus pur. Nicht Gefühle bestimmen
zwischenmenschliche Beziehungen, sondern rationale Überzeugungen. Man liebt
seinen Partner, weil man rational davon überzeugt ist, dass er es verdient, geliebt zu werden. Nur aus
diesem gleichen Grund darf man erwarten, von seinem Partner geliebt zu werden.
Das Selbstwertgefühl bedeutet, dass man sich wert fühlt, geliebt zu werden. Hat
man dieses Gefühl nicht (bzw. hat man es sich nicht auf rationale Weise
erarbeitet), dann verdient man nicht,
geliebt zu werden. Würde man trotzdem Liebe erwarten, dann würde das von
anderen verlangen, dass sie unverdiente
Liebe schenken. Altruismus
statt Egoismus. Selbstverzicht statt Eigeninteresse (“Self-sacrifice is the precept that man needs to serve others, in
order to justify his existence. That his moral duty is to serve others. That is
what most people believe today”).
Daraus leitet
sich Ayn Rand’s philosophisches Gelübde ab: “I swear by my life and my love
of it that I will never live for the sake of another man, nor ask another man
to live for the sake of mine.” Eine doppelte Verneinung als
Basis des pursuit of happiness? „Sag ‚nein‘ zum Leben“ statt „Sag ‚ja‘ zum Leben“? Check
your premises, Ms. Rand! Sind es Verneinungen, die zum Glück führen
oder Bejahungen? Aus dem Buch muss man schließen, dass Verneinungen eher zu
Selbstquälerei führen. Die Helden des Buches kämpfen über weite Strecken mit
sich selbst. Sie quälen sich bei ihrem pursuit
of happiness. In Wirklichkeit kommt happiness
im Buch fast nie vor.
Was ist die Quelle von Ayn Rand’s Philosophie? „ My own mind, with the sole acknowledgement of a debt to Aristotle, who
is the only philosopher that ever influenced me. I devised the rest of my
philosophy myself”.
Check
your premises, Ms. Rand! Friedrich Nietzsche hat in seiner Generalattacke
auf das Christentum den Begriff der “Umkehrung aller
Werte” geprägt. Es war das Christentum, so Nietzsche, das dem Menschen die
schlimmsten aller Krankheiten beschert hat – das schlechte Gewissen; die
Verantwortung für die Erbsünde; die zwangshafte Selbstaufopferung und altruistische
Nächstenliebe; die Selbstkreuzigung als Tilgung einer Schuld von unbeteiligten
Dritten (die diese Tilgung gar nicht verlangt hatten); etc. Laut Nietzsche hat
das Christentum die starken Germanen nicht im harten Kampf erobert, sondern
dadurch, dass es sie psychisch krank gemacht hat. Ayn Rand war das nicht
bekannt? Natürlich war ihr Nietzsche bestens bekannt, sonst hätte sie ihn nicht
ablehnen können. Aber trotzdem war Ayn Rand von Nietzsche nicht beeinflusst? Check
your premise, Ms. Rand!
Das Gebot des rationalen Denkens als Voraussetzung für den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit“ ist spätestens seit
Immanuel Kant bestens bekannt. Unmündigkeit ist, so Kant, „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,
wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der
Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu
bedienen“. Ayn Rand bezeichnete Kant als ‚Monster‘, weil sie ihm die
Absicht unterstellte, den rationalen Verstand des Menschen töten zu wollen. Check your premise, Ms. Rand! “My
philosophy, in essence, is the concept of man as a heroic being, with his own
happiness as the moral purpose of his life, with productive achievement as his
noblest activity, and reason as his only absolute”, schreibt Ayn Rand. Wo
genau unterscheidet sie sich da von Kant?
Die knapp 1.200 Seiten des Buches haben mich
aufgewühlt und mich veranlasst, umfangreiche Recherchen über Ayn Rand und ihre
Philosophie zu machen. Ich verspürte gewissermaßen einen Ayn-Rand-Kult und
fühlte mich teilweise sogar darin verfangen. Innere Intuitionen wurden
getroffen und Emotionen wurden geweckt. Wäre ein John-Galt-Express mit
leidenschaftlichen Objektivisten vorbeigefahren, wäre ich vielleicht spontan
aufgesprungen. Dann erinnerte mich jedoch mein Verstand an den Wahlspruch Check
your premises!
Das Buch handelt vom Konflikt
zwischen den Guten (den Wertschöpfern, den ‚job creators‘) und den Bösen
(den staatlichen Umverteilern, den Schmarotzern; teilweise sogar den
Gutmenschen) in der Gesellschaft. Die Wertschöpfer gehen in Streik und die
Schmarotzer müssen erfahren, wie schlecht es ihnen ohne die immer verteufelten
Wertschöpfer geht. Hank Rearden, Dagny Taggart & Co. sind die heroischen
(wenngleich egoistischen) Vertreter der Wertschöpfer in nahezu übermenschlicher
Perfektion. Wesley Mouch, Dr. Ferris & Co. sind die widerwärtigen Vertreter
der Schmarotzer in geradezu tollpatschiger Form. Check your premises!
Entsprechen Rearden & Co. den Wertschöpfern der heutigen Zeit? Sind Mouch
& Co. repräsentativ für die heutigen Schmarotzer?
Auf der Suche nach einem aktuellen Beispiel der Wertschöpfer
im Sinne von Ayn Rand bin ich bei Steve Jobs gelandet. Der hervorragenden
Jobs-Biographie von Walter
Isaacson kann man entnehmen, dass Jobs ein grenzenloser Egoist ohne
jegliche Empathie war. Ein Mensch, der kompromisslos seine eigenen egoistischen
Prinzipien verfolgte und dies auch von anderen einforderte; für den jedwede
Form des Altruismus, des Mitgefühls für andere fremd war; für den es nur ein Ziel gab – die
Perfektion seiner Produkte (der Multi-Milliardär Jobs engagierte die teuersten
Anwälte, um gegen ein Gerichtsurteil, für seine uneheliche Tochter 700 Dollar
monatlich Unterhalt zu zahlen, anzukämpfen. Begründung: das Kind in die Welt zu
setzen, war nicht seine Entscheidung gewesen. Im Gegenteil: es geschah sogar
ohne sein Wissen. Ergo: er sei dafür nicht verantwortlich). Kurz: nach allen
gängigen Moralvorstellungen war Steve Jobs ein widerwärtiger Menschentyp.
Und trotzdem: wäre Steve Jobs in jugendlichem Alter in Streik
gegangen und/oder hätte er sich in eine buddhistische Kommune zurückgezogen,
statt Apple zu gründen, dann hätten Millionen von Menschen nicht erleben
können, was es bedeutet, ‚the
power to be at your best‘ zu haben. Millionen von Menschen hätten nicht
erfahren können, was ‚think
different‘ bedeutet und zu welchen Hochleistungen es anspornen kann. Die
Welt wäre ohne Steve Jobs eine ärmere gewesen. Ist das ein Beweis für die
Gültigkeit von Ayn Rand’s These, dass egoistisches Handeln seitens der
Wertschöpfer Gutes für die Menschheit bringt?
Ich meine nein. Wir wissen, wie viel Steve Jobs der Gesellschaft geben konnte, obwohl er nach
allen gängigen Moralvorstellungen ein widerwärtiger Menschentyp war. Wir wissen
jedoch nicht, wie viel mehr er hätte
geben können, wenn er ein anderer Menschentyp gewesen wäre.
Ayn Rand vermittelt den Wertschöpfern à la Rearden & Co.
die Bestätigung ihrer Opferrolle. Sie werden von undankbaren Parasiten
ausgenützt und von begehrenden Regierungen unterdrückt. Check your premises, Ms. Rand!
Wer sind in der heutigen Zeit die Wertschöpfer? In den USA sind es vor allem
die oft zitierten „top 1%“, die sich von
Ayn Rand angesprochen bzw. bestätigt fühlen. Sind es Rearden & Co., die die
diese „top 1%“ ausmachen? Nein! In diesen „top 1%“ sind Rearden & Co. eher
die Ausnahme. Stattdessen sind es die Genies der Finanzintermediation, die CEOs
von großen Kapitalgesellschaften und die Erben großer Vermögen, die das Gros
der „top 1%“ ausmachen. Das sind die wahren Parasiten, die nur deshalb zu den
„top 1%“ gehören, weil sie die Wertschöpfung anderer ausnützen und die
Heerscharen von Lobbyisten beschäftigen, damit ihr Parasitendasein nicht
gefährdet wird. Hank Rearden war besessen davon, den besten Stahl zu
produzieren. Detto für Steve Jobs, dessen einziges Ziel es war, die schönsten elektronischen
Produkte zu produzieren. Der Großteil der „top 1%“ ist jedoch besessen davon,
die höchsten Renditen zu erzielen unabhängig davon, um welches Grundgeschäft in
der Realwirtschaft es sich handelt. Sie würden sogar das Grundgeschäft
ruinieren, wenn es der Rendite hilft.
Jene wenigen unter den „top 1%“, die tatsächlich noch so
agieren wie ein Hank Rearden mit seinem Stahl; wie eine Dagny Taggart, die für
ihre Geschäftsidee persönlich in die Haftung ging; jene, die tatsächlich an
realer Wertschöpfung interessiert sind; wie agieren die? Wenn man Warren
Buffett als Beispiel nimmt, dann kritisiert dieser, dass sein tatsächlicher,
persönlicher Einkommenssteuersatz unter der Hälfte jenes seiner Sekretärin
liegt. Wenn man Bill Gates als Beispiel nimmt, dann bringt dieser (wie auch
Buffett) einen Großteil seines Vermögens in eine wohltätige Stiftung ein.
Mitt Romney hatte als Präsidentschaftskandidat 47% der
Amerikaner Parasiten genannt, die von Sozialtransfers leben und deshalb Obama
wählen. Er selbst zählte sich zu den Wertschöpfern à la Ayn Rand und prahlte, mit
seiner Bain & Co. große Werte geschaffen und damit sein Vermögen aufgebaut
zu haben, das er nun unter Ausnützung sämtlicher legaler Steueroasen bestens
veranlagt. Ein Unternehmen wie Bain & Co. schafft keine realen Werte! Es
verdient sein Geld damit, dass es eine in Schwierigkeiten geratene Rearden Metal
billig kauft und einem anderen, der den Wert von Rearden Metal erkennt und der
über die finanziellen Ressourcen verfügt, teuer weiterverkauft. Die
Wertschöpfung von Rearden Metal verändert sich nicht; nur deren Nutznießer.
Hank Rearden würde behaupten, dass Bain & Co. ihn bestohlen hat. Ellis Wyatt
hätte seine Firma niedergebrannt, bevor Bain & Co. sie kaufen könnte.
Paul Ryan, Romney’s Kandidat zum Vize Präsidenten, deklarierte
sich als Jünger von Ayn Rand. “I grew up reading Ayn Rand and it
taught me quite a bit about who I am and what my value systems are, and what my
beliefs are. It’s inspired me so much that it’s required reading in my office
for all my interns and my staff”, so der ursprüngliche Ryan. Weiter: “The
reason I got involved in public service, by and
large, if I had to credit one thinker, one person, it would be Ayn Rand”.
Und: “I think Ayn Rand did the best job
of anybody to build a moral case of capitalism, and that morality of capitalism
is under assault”. Als Ryan Vize-Präsidentschaftskandidat wurde,
hatte er eine plötzliche Erleuchtung: „I
reject her philosophy. It’s an atheist philosophy. It
reduces human interactions down to mere contracts and it is antithetical to my
worldview. If somebody is going to try to paste a person’s view on epistemology
to me, then give me Thomas Aquinas”. Wieder eine Umkehrung aller Werte?
Diesmal von Ayn Rand zu Thomas von Aquin?
Viele konservative Republikaner sehen heute in Ayn Rand die
Antwort auf die Probleme unserer Zeit. Sie brüllen lautstark „Ayn Rand was right!“ und verfechten
gleichzeitig die These, dass Gott in der Tat die Erde in 6 Tagen erschaffen
hat. Check
Ayn Rand’s premises, dear conservative Republicans!
Ayn Rand lässt ihren Helden Ragnar Danneskjöld als Piraten
auftreten, der staatliches Vermögen raubt, um es den vorher beraubten
Wertschöpfern zurückzugeben. Danneskjöld’s größter Feind ist Robin Hood, der
die Reichen beraubte, um es den ‚unwerten‘ Armen zu geben, die das Geld nicht verdient haben. Leider erkennt
Danneskjöld nicht, dass er selbst ein Robin Hood ist; nur eben im umgekehrten
Sinn. Beide wollen Gerechtigkeit, aber Gerechtigkeit ist auch eine Frage der
Wahrnehmung und des Standpunktes; sie kann nicht objektiv und rational bestimmt
werden. Haben die Juden Jesus gekreuzigt oder hat Jesus seine Kreuzigung
provoziert? Was ist die Wahrheit? Pontius Pilatus hat die richtige Antwort
gegeben: Was ist schon Wahrheit?
Es steht außer Frage, dass wir in einer Zeit leben, wo in
vielen Wohlfahrtsstaaten die wirtschaftlichen Leistungsträger der Gesellschaft
über Gebühr von staatlichen Umverteilern in Anspruch genommen werden. Vereinzelt
hört man schon Aufrufe zu einem Steuerstreik seitens dieser Leistungsträger.
Ich meine jedoch, dass diese Leistungsträger nicht jene Wertschöpfer sind, von
denen Ayn Rand spricht und die sich von Ayn Rand angesprochen fühlen. Es sind
nicht die „top 1%“, sondern vielmehr sind es die Mittelständler, die das
Rückgrat vieler Volkswirtschaften ausmachen. Erfolgreiche Mittelständler
wissen, dass für den Erfolg nicht nur rationales Management, sondern auch
emotionale Menschenführung unverzichtbar ist. Ich würde sogar behaupten, dass
erfolgreiche Mittelständler der beste Beweis sind, dass das ganze Unternehmen
mehr ist als die Summe egoistischer Leistungen von Individuen.
Eine Frage steht vom Beginn des Buches im Raum: Who is John
Galt? Für mich stellte sich relativ bald die Frage ein: Who is Ayn Rand?
Ayn Rand, eine gebürtige Russin, wanderte im Alter von 21
Jahren in die USA aus. Ihre Eltern verkauften Familienjuwelen, um dies zu
finanzieren. Verwandtschaft in Chicago ermöglichte es ihr, nach Kalifornien,
nach Hollywood zu kommen. Dort heiratete sie Frank O’Connor, eine ‚geduldige
Seele‘, einen Gentleman Farmer und Künstler, der in den ersten Jahren ihrer Ehe
für den finanziellen Unterhalt sorgte. O’Connor, der in Kalifornien verwurzelt
war, musste später diesen Wohnsitz aufgeben, weil Ayn Rand nach New York
wollte, um sich dort künstlerisch besser verwirklichen zu können. Außerdem war
ihr 25 Jahre jüngerer ‚philosophischer Jünger‘ (und späterer Liebhaber) Nathaniel
Branden nach New York übersiedelt und sie wollte in seiner Nähe bleiben.
O’Connor’s wiederholt geäußerte Sehnsucht, für den Rest seines Lebens auf die
kalifornische Ranch zurückzukehren, wurde von Ayn Rand mit den Worten “He loves New York. He hated California“ abgetan. “I swear by my life and my love
of it that I will never … ask another man to live for the sake of mine”? Check
your premise, Ms. Rand!
1959, zwei Jahre nach Erscheinen von Atlas Shrugged, gab Ayn Rand im Alter von 54 Jahren Mike Wallace
ihr berühmtes TV
Interview, bei dem sie u. a. sagte „I
am the most creative thinker alive“. Zu beobachten war eine Dame, die mit
der Souveränität eines geläuterten Philosophen à la Aristoteles nichts gemein
hatte. Eher ein Mensch, der unruhig mit sich selbst kämpft und Schwierigkeiten
hat, seinem Gegenüber in die Augen zu schauen. Eine Philosophin, deren
Philosophie eher als Ergebnis von Qualen statt von Erleuchtung erscheint. Eine
Frau, die in Atlas Shrugged
seitenlang (und vollkommen unnötigerweise) über die weibliche sexuelle
Erfüllung referierte und bei deren Beobachtung man durchaus zweifeln konnte, ob
sie eine solche Erfüllung schon einmal erlebt hat.
Etwas später trat Ayn Rand bei Johnny Carson auf, wo sie
ausführlich interviewt wurde. Ich habe sehr, sehr viele Johnny Carson Shows
gesehen. Dies war die einzige, bei der nicht gelacht wurde.
Ayn Rand’s Verhältnis mit dem 25 Jahre jüngeren Nathaniel
Branden erfuhr mehrere längere Unterbrechungen, wurde jedoch von Branden endgültig
beendet, als Ayn Rand schon über 60 war. Branden teilte ihr - durchaus rational - mit, dass der
Altersunterschied ein romantisches Verhältnis mit ihr nicht mehr ermöglichte
und dass er schon seit langem ein Verhältnis mit einer jungen Studentin hatte.
Rand schrieb einen Öffentlichen Brief, in dem sie Branden, einem langjährigen
Mitstreiter des Objektivismus und Geschäftspartner von Rand, plötzlich philosophische
Inkompetenz und geschäftsschädigendes Verhalten vorwarf. Privat schrieb sie Branden - etwas weniger rational -: “If you have one ounce of morality left in
you, an ounce of psychological health—you’ll be impotent for the next twenty
years! And if you achieve potency sooner, you’ll know it’s a sign of still
worse moral degradation!”
Ayn Rand erkrankte im Alter an Lungenkrebs, dessen Behandlung
hohe Kosten verursachen würde. Ayn Rand, die leidenschaftliche Gegnerin von
staatlichen Sozialtransfers jeglicher Art, registrierte sich bei der
staatlichen Medicare und Social Security, deren Leistungen sie in Anspruch
nahm. Allerdings nicht unter ihrem Namen Ayn Rand, sondern als Ann O’Connor,
ihrem sonst nie verwendeten ehelichen Namen. Sie hatte vorher wütend gegen beide Programme, die sie als Beispiele des
intrusiven Staates beschrieb, protestiert. Ihre spätere Rechtfertigung war:
Ärzte sind sehr teuer und kosten mehr, als man mit dem Verkauf von Büchern
verdienen kann. Die Arztrechnungen hätten sie finanziell total ruiniert. Sie
habe ihr Leben lang Beiträge geleistet und somit Ansprüche erworben. ‚Wohlerworbene
Rechte‘ hätten das die von ihr verteufelten Parasiten genannt.
Check your premises,
Ms. Rand!
Atlas Shrugged ist,
wie schon gesagt, ein aufwühlender, wenn nicht sogar aufputschender und
packender Roman. Es gibt hervorragende Dialoge zwischen den Wertschöpfern und
den Parasiten. Die besten Antworten auf die Parasiten werden Hank Rearden in
den Mund gelegt. Vor Gericht wird Hank Rearden vorgeworfen, dass sein Profit im
Kontext des öffentlichen Interesses viel zu hoch ist. Rearden antwortet darauf: “The
public may curtail my profits any time it wishes - by refusing to buy my
product. Any other method of curtailing profits is the method of looters - and
I recognize it as such”. Thesen der gängigen Moralvorstellungen
werden Gegenthesen brutal gegenübergestellt, was zum Nachdenken anregt.
Trotzdem wird man nicht überzeugt, dass die gängigen Moralvorstellungen komplett
falsch sind.
Das Buch ist wesentlich zu lang für eine Version des
‘Marxismus der Rechten’. Marx & Engels benötigten nur einen Bruchteil der
Seiten, um ihr Kommunistisches
Manifest darzustellen. John Galt brauchte 3 Stunden, um in seiner Rede
seine Überzeugungen darzulegen und man darf zweifeln, ob die Zuhörer am Ende
seine Rede wirklich verstanden haben. Ob sie darin etwas Positives erkannten
oder das Gegenteil. Mit Sicherheit haben alle Angst verspürt. Es war eine Rede,
die an Big Brother von George Orwell erinnert. Steve Jobs hingegen verstand es,
bei seiner Commencement
Speech an der Stanford University den Absolventen seine Philosophie in 15
Minuten rüberzubringen und anhand der Standing Ovation darf man vermuten, dass
seine Rede nicht nur verstanden, sondern begeistert angenommen wurde.
Francisco d’Anconia hält eine langatmige Money Speech, in der er
sein Verständnis von der Rolle und Bedeutung des Geldes für die Menschheit
darlegt. Fraglich ist, ob irgendjemandem der begeisterten Zuhörer (und Leser!)
aufgefallen ist, dass die Rede absolut nicht mit irgendeiner rationalen
Geldtheorie vereinbart werden kann. Dies soll nicht bedeuten, dass alle
rationalen Geldtheorien stimmen. Im Gegenteil, die Geldtheoretiker von heute,
die mächtigen Notenbanker, sind den gutmeinenden Umverteilern von Atlas
Shrugged, Wesley Mouch, Dr. Ferris & Co., nicht unähnlich. Sie bestimmen
über gigantische Vermögenstransfers von reich zu arm; von Sparern zu Schuldnern.
Darauf ist Francisco d’Anconia in seiner Geldromantik nicht eingegangen.
Ayn Rand versteht Atlas
Shrugged als Epos im Kampf zwischen Individualismus und Kollektivismus.
Individualismus und Kollektivismus sind keine Entweder-Oder, sondern Sowohl-Als-Auch
Positionen. Das Kollektiv kann nur dann gut funktionieren, wenn die Individuen
optimal eingestellt und frei in ihrer Entfaltung sind. Es gibt keinen materiellen
und/oder immateriellen Wert in der ganzen Welt (Werte, die die Natur geschaffen
hat, ausgenommen), dessen Ursprung nicht entweder im Hirn oder in den Händen
eines Individuums zu finden ist (mit Rücksicht auf Fußballer und Skifahrer füge
ich die Füße eines Individuums hinzu…). Gleichzeitig gibt es kein menschliches
Individuum, das – wenn ganz alleine auf sich gestellt – in der Welt überleben
könnte. Zumindest nach der Geburt braucht es die Unterstützung (den Altruismus)
einer Mutter. N. b.: die Thematik zwischen Individuum und Kollektiv ist keine
(rein) philosophische Frage. Soziologisches Verhalten ist ein Produkt der
Evolution, und die Wechselwirkungen zwischen dem Individuum und der
Gesellschaft sind wohl untersucht.
Wer die Debatte Individualismus vs. Kollektivismus führen
möchte, ist besser beraten, die „Constitution
of Liberty“ oder „The
road to serfdom“ zu lesen (beide von Friedrich von Hayek). Dort werden
rationale Argumente ins Rennen geführt und nicht 'unendlicher ideologischer
Pallawatsch' (William F. Buckley) wie im Falle von Atlas Shrugged.
Kant sagt, dass der Mensch sich rational verhalten sollte,
damit er seine happiness finden kann.
Ayn Rand behauptet, dass der Mensch rational ist und dass alle jene, die nicht
rational sein können, es nicht verdienen, Mensch zu sein. Check your premise, Ms. Rand!
Wäre der Mensch ein rationales Wesen, dann gäbe es keine Religionen. Natürlich
gibt es viele Menschen, die aufgrund ihres Intellektes, ihrer Begabung, ihrer
Prägung, etc. in der Lage sind, rational zu denken und ihr Leben auf rein rationalen
Prämissen aufzubauen. Vielleicht werden in Hunderten von Jahren alle Menschen
dazu in der Lage sein. Dann werden wir genau verstehen, wie das Universum
entstanden ist und welchen Teil wir als Menschen in diesem Universum spielen.
Bis es so weit kommt, ist man besser beraten, die Wirklichkeit so zu
akzeptieren, wie man sie wahrnimmt und Toleranz anderen entgegenzubringen, die
sie anders wahrnehmen. Wer diese Toleranz nicht hat, muss in Kauf nehmen, einmal
so verzweifelt zu enden wie Friedrich Nietzsche oder --- Ayn Rand. Es ist nicht
vermeidbar, dass eine Philosophie, die nur auf das ‚Selbst‘ unter Ausschluss
des ‚Anderen‘ abstellt, ihre Anhänger in Isolation und Einsamkeit enden lässt.
Abschließend eine Ayn-Rand-Einschätzung von Barack Obama, die
ich für sehr treffend halte:
“Ayn Rand is one of those things that a lot of
us, when we were 17 or 18 and feeling misunderstood, we’d pick up. Then, as we
get older, we realize that a world in which we’re only thinking about ourselves
and not thinking about anybody else, in which we’re considering the entire
project of developing ourselves as more important than our relationships to
other people and making sure that everybody else has opportunity – that that’s
a pretty narrow vision. It’s not one that, I think, describes what’s best in
America.”