Dienstag, 30. Oktober 2012

Eine Debatte im Spiegelfechter-Blog

Im Spiegelfechter-Blog wurde kürzlich ein Artikel veröffentlicht, in dem der ehemalige deutsche Bundeswirtschaftsminister Michael Glos für seine Nähe zum Think-Tank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) kritisiert wurde. Ein kurzer Leserkommentar meinerseits stieß eine rege Kritik von allen Seiten vom Stapel. Statt im Blog mit kurzen Einwänden auf kurze Einwände anderer zu reagieren, habe ich nachstehende Artikel dort veröffentlicht. 


Antworten/Reflektionen auf Leserkommentare
Nachdem sich der Sturm über meine paar Zeilen gelegt zu haben scheint, erlaube ich mir ein paar Antworten/Reflektionen.

Vorab: nein, ich war mit dem INSM als Institution nicht vertraut, sondern ich bezog mich auf die Überschrift „Neue Initiative für die Soziale Marktwirtschaft“. Jede solche Initiative halte ich grundsätzlich einmal für gut. Wenn die INSM-Initiative die falsche ist, dann muss jemand mit einer besseren Alternative kommen, statt nur das Falsche zu kritisieren. Sollte allerdings diese neue Alternative das Wort ‚Marktwirtschaft‘ nicht mehr beinhalten, dann sollte man sich die Initiative sparen.

Ich habe mir das Plus/Minus Video angeschaut und auch die Artikel gelesen (danke!). Von wegen journalistischer Objektivität kann ich da nicht viel erkennen. Vor allem das Video ist vollkommen einseitig und aufhetzerisch geprägt. Es ist durchaus legitim, Spiegelfechter als seine „geistige Heimat“ zu betrachten. Nicht legitim ist es, einem anderen nicht eine andere „geistige Heimat“ zu gestatten. Es geht um den Wettbewerb der Argumente und nicht um jenen der Vorurteile!

Lennard hat sich die Mühe gemacht, zu recherchieren, wofür ich wirklich stehe, anstatt in ein paar Zeilen das hineinzulesen, worauf die Empfangsantennen eingestellt sind. Danke! Ja, ich bin Österreicher und im Ruhestand (den ich zur Hälfte in der Heimat meiner Frau, Griechenland, verbringe). Mein Hauptblog ist über Griechenland. Daneben habe ich 2 kleine Blogs, wo ich hin und wieder über Sonstiges poste. Man hat offenbar den Artikel gefunden, den ich einmal über den Neoliberalismus geschrieben habe. Dort habe ich in der Tat geschrieben, dass es mir heutzutage oft leichter fällt, Leuten wie Gysi und Wagenknecht in ihrer Ursachenanalyse (nicht ihren Lösungsvorschlägen!) zu folgen, als den Vertretern des politischen und/oder wirtschaftlichen Establishments. Lennard hätte allerdings jenen Satz zitieren können, der gleich nach meinen Worten über Gysi/Wagenknecht kam, nämlich:

„Es steht doch völlig außer Frage, dass Banken primär der Wirtschaft und dass die Wirtschaft primär der Gesellschaft dienen sollte. Es wird aber keine sehr gut funktionierende Gesellschaft geben, hinter der nicht auch eine gut funktionierende Wirtschaft steht und es wird ohne gut funktionierende Banken auch keine gut funktionierende Wirtschaft geben“.

Meine Berufserfahrungen in Deutschland gewann ich in den Jahren 1974-80 (als Account Manager einer amerikanischen Bank) und 2003-2010 (als Geschäftsleiter der größten in Deutschland vertretenen österreichischen Bank). Beide Male mit Marktverantwortung für Bayern/Baden-Württemberg.

Ich sehe die deutsche Wirtschaft anders als die Spiegelfechter-Anhänger. Für mich ist die deutsche Wirtschaft eine Wirtschaft des Mittelstandes und nicht der Großkonzerne bzw. kapitalmarktorientierten Publikumsgesellschaften (ich glaube, 80-90% der Arbeitnehmer sind im Mittelstand beschäftigt). Ich habe in den letzten Jahren mehrere hundert mittelständische Unternehmen und Unternehmer in Bayern/Baden-Württemberg kennenlernen dürfen. Dort herrscht keine Kapitalmarktkultur! Dort herrscht keine Besessenheit mit ROE! Dort herrscht keine Abcasher-Mentalität! Stattdessen herrschen dort Werte: Familieneigentümer, deren Hauptinteresse der Entwicklung des Unternehmens gilt und nicht der zu erwartenden Dividende. Wo die Loyalität zweigleisig ist (vom Unternehmer zu den Mitarbeitern und vice versa). Wo man leidet, wenn Arbeitsplätze nicht gehalten werden können und wo man sich freut, wenn man Arbeitsplätze schaffen kann. DAS ist für mich die deutsche Wirtschaft! Lassen Sie mich beispielhaft nur 3 der besten Namen nennen: Trumpf (sehr groß), Kathrein (groß) und Schreiner (klein). Dieser Mittelstand würde sich von der Argumentation der Spiegelfechter-Kommentatoren über die ‚Wirtschaft‘ – m. E. zu Recht – beleidigt fühlen. Wahrscheinlich würden sie sich dem INSM hingezogen fühlen mit der Absicht, Aufklärung zu schaffen, was die ‚Wirtschaft‘ wirklich ist. Ich erinnere an mein Churchill-Zitat im Kommentar.

Die unvertretbaren Exzesse des Kapitalmarktes (vor allem des abstrakten Finanzmarktes) halte ich für ebenso verurteilungswürdig wie Gysi/Wagenknecht. Allerdings liegt das nicht am System ‚Wirtschaft‘ oder ‚Marktwirtschaft‘. Es liegt – zumindest in meiner Wahrnehmung – primär am Versagen der Politik (und am Versagen des „Staates als oberste Instanz jenseits aller Interessensvertretungen“ – dies ist übrigens eine neoliberale Definition der Rolle des Staates). Ich bin kein „Anbeter“ von Systemen und/oder wirtschaftlichen/gesellschaftlichen Modellen, weil der Erfolg jedes Systems abhängt von den handelnden Personen und deren Werteskala.

Ausgehend von den USA (und wunderbar übernommen von Europa) hat die Politik einem wild-gewordenen, abstrakten Finanzsektor nicht nur die Zügel überlassen, sondern ihn auch noch gefördert. Und seit 2008 hat sie sich in unglaublich amateurhafter Weise von den Märkten vorführen lassen. Man stelle sich vor: Pleitebanker gehen erhobenen Hauptes zur Politik und verlangen, dass man sie retten müsse. Und die Politik erfüllt den Auftrag; einfach so! Die korrekte Antwort der Politik hätte sein müssen: „Ja, wir werden retten. Wir werden aber nicht Eure Eigentümer, Eure spekulativen Kunden und/oder Eure Manager-Jobs retten, sondern Euer Grundgeschäft. Unsere Auffanggesellschaft steht schon parat: Ihr könnt am Vormittag Konkurs anmelden und am Nachmittag läuft das Geschäft ganz normal weiter. Kein Sparer oder ‚realer Kunde‘ wird darunter leiden. Die Eigentümer werden allerdings bluten (wie es die Marktwirtschaft verlangt) und viele Eurer spekulativen Kunden, die ja nicht umsonst als ‚professionelle Marktteilnehmer‘ eingestuft werden, werden ebenfalls einen Beitrag zur Sanierung leisten müssen. Und wir werden prüfen, ob es irgendwelche Haftungsansprüche gegen die Managements gibt“. So geschehen mit der Continental Bank of Chicago im Jahr 1984, damals eine ‚too-big-to-fail‘ Bank.

Wie gewährleistet man, dass in der Wirtschaft Führungskräfte mit der „richtigen“ und nicht der „falschen“ Werteskala das Sagen bekommen? Sicherlich nicht per Gesetz, weil das gar nicht geht. Aber beachten Sie bitte: niemand ist unabhängig und/oder unverwundbar, auch nicht Goldman Sachs (und schon gar nicht die Deutsche Bank mit ihrer Leverage von 40:1!). Goldman würde es heute nicht mehr geben, wäre die amerikanische Politik/Regierung damals nicht eingeschritten. Und Goldman’s Dank dafür? Ein präpotentes und teilweise freches Auftreten vor einem Untersuchungsausschuss im US Congress ein paar Monate später. Besser könnte man nicht demonstrieren, dass man die Politik/Regierung für ‚nützliche Idioten‘ hält!

Am Ende des Tages hat die Politik immer den stärkeren Hebel. Die Politik muss allerdings den Mut und das Rückgrat haben, diesen Hebel verantwortungsvoll und verantwortungsgerecht einzusetzen. Wenn sie das nicht tut, dann kommt es zu dem, was wir heute auf den abstrakten Finanzmärkten erleben. Ein Fußballschiedsrichter wird dafür bezahlt, dass er das Spiel nicht außer Kontrolle geraten lässt und dass alles möglichst fair und regelkonform bleibt. Die Politik ebenso.

Ich glaube nicht, dass in einer Deutsche Bank, die einen Herrn Herrhausen als AR-Vorsitzenden gehabt hätte, ein Vorstandsvorsitzender, dem zum Thema Strategie nichts Anderes einfällt als eine 25%-ige EK-Rendite, sehr lange Vorstandsvorsitzender geblieben wäre (viel mehr: er wäre gar nicht Vorstandsvorsitzender geworden). Bei einer IHK-Veranstaltung in Nürnberg Anfang der 2000er Jahre verkündete Herr Breuer (damals Sprecher der Deutsche Bank) den anwesenden Mittelständlern, dass „die Aufgabe der Deutsche Bank nicht sein kann, den deutschen Mittelstand zu finanzieren“. Es ist mir nicht bekannt, dass er dafür von irgendeinem (Wirtschafts-)Politiker zur Rechenschaft gezogen wurde. Dass vielleicht irgendeine öffentliche Institution verkündet hätte, dass sie dann eben ihr Geschäft von der Deutsche Bank abziehen müsse. Dass vielleicht die Republik bei der nächsten Bond-Emission die Deutsche Bank nicht eingeladen hätte. Etc.

Eine kleine Anekdote: im Jahr 1988 hatte ich den CFO von Siemens-USA, mit dem ich aus meiner ersten Münchner-Zeit noch befreundet war, zum Abendessen zu Gast in meinem damaligen Zuhause in Chicago. Wir redeten über das blühende LBO-Geschäft in den USA und wie dieses funktionierte (der Käufer verwendet die Assets des Kaufobjektes, um den Kaufpreis zu finanzieren). Ich erwähnte, dass Siemens wohl ein ideales Kaufobjekt wäre, weil alleine die Cash-Reserven des Konzerns ausreichen könnten, den Kaufpreis zu finanzieren. Spaßhalber prophezeite ich, dass bis spätestens 1999 Siemens Ziel eines Buy-out’s werden könnte. Er antwortete empört: „So etwas wird es in der deutschen Wirtschaftskultur niemals geben!“

Na ja, da hat sich an der deutschen Wirtschaftskultur seither eine Kleinigkeit geändert. (Wie sich die amerikanische Wirtschaftskultur geändert hat, habe ich einmal in diesem Artikel beschrieben). Aber bitte: doch nicht wegen des Systems! Das System ist das gleiche geblieben. Es ist die Werteskala der handelnden Personen, die sich geändert hat. Dinge, für die man sich vor 30/40 Jahren noch hätte schämen müssen, gehören heute zum Alltag. Es geht also immer um die Frage: wie entsteht eine Werteskala und wie kann man gegensteuern, wenn sie sich in die falsche Richtung bewegt. Die Werteskala wird in der Regel von oben nach unten geprägt („wie der Herr, so‘s G’scherr“). So ist das auch bei den oben erwähnten Mittelständlern: die (Familien-)Eigentümer prägen die Kultur. Ich habe keinen Lösungsvorschlag, wie man die bestehende Werteskala im Kapitalmarkt und im abstrakten Finanzsektor ändern könnte. Ich bin jedoch überzeugt, dass es ein großer Fehler ist, ein erfolgreiches System in Misskredit zu ziehen, nur weil die Werteskala der handelnden Personen aus dem Ruder geraten ist (bzw. weil man sie aus dem Ruder geraten hat lassen!).

Zuletzt zu den „Maden im Speck“. Hier war ich in der Wortwahl etwas unbedacht. Ich weiß natürlich, dass der untere Teil der deutschen Gesellschaft vom Aufschwung der letzten Jahre nicht viel mitbekommen hat (allerdings: es gibt heute ein paar Millionen mehr Beschäftigte; niedriges Einkommen ist sicherlich ein großes Problem; keine Arbeit zu haben, ein viel größeres; das weiß jeder, der einmal arbeitslos war). In einer Gesellschaft, die insgesamt so wohlhabend ist wie die deutsche, dürfte es keine Armut geben. Man muss aber auch die Fremdsicht im Auge behalten und da ist es nun einmal so, dass der Rest der Welt nur staunen kann, dass in Deutschland so viel gejammert wird (nicht nur in Griechenland, wo ich diese Zeilen schreibe).

Es klingt schon furchtbar, wenn man Überschriften wie z. B. „Abschaffung des Kündigungsschutzes“, „Anpassung/Senkung der Löhne“, „Flexibilisierung/Ausweitung der Arbeitszeiten“, etc. in die Welt posaunt. Da fließt einem doch der eiskalte, menschenverachtende Neoliberalismus den Rücken runter. Es gibt aber auch Volkswirtschaften, die nach einer Krise den Weg zum Erfolg gefunden haben und die dann stolz berichten: „Wir haben den Kündigungsschutz abgeschafft, den Arbeitsmarkt flexibilisiert, Löhne an Marktniveau angepasst, Arbeitszeiten ausgeweitet, etc.“. Vorausgesetzt, dass parallel dazu ein ausreichendes Sicherheitsnetz für jene existiert, die (vorübergehend) nicht am wirtschaftlichen Erfolg teilnehmen können, sehe ich daran nichts Verwerfliches.

Viele Länder dieser Erde wundern sich, dass sich Deutschland noch das leisten kann, was sie ihrerseits als puren sozialen Luxus empfinden. Meines Wissens haben Deutsche eine der niedrigsten Jahresarbeitszeiten pro Kopf und eine der längsten Jahresurlaubszeiten weltweit. Formelle Aufhebung des Kündigungsschutzes hin und her – wir konnten in der Bank niemanden kündigen. Wenn man sich von jemandem trennen wollte und diesem Jemanden nichts Anderes vorzuwerfen war als komplette Erfolgslosigkeit, dann musste man einen satten Aufhebungsvertrag einvernehmlich verhandeln. Unser Stammhaus in Österreich, wo auch nicht gerade a-soziale Verhältnisse herrschen, war da oft sehr verwundert.

Ich komme zurück auf das Churchill-Zitat, das ich voll und ganz unterschreibe. Die Wirtschaft ist kein aggressiver Tiger, den man erlegen sollte und sie ist keine Kuh, die man andauern melken kann. Wir ALLE sind die Wirtschaft und nicht nur jene, die von Spiegelfechter-Anhängern als „böse“ eingestuft werden. Der Bäcker lebt davon, dass beispielsweise ein Schlosser bei ihm Brot einkauft. Wenn man den Schlosser in seiner wirtschaftlichen Freiheit einschränkt und er weniger verdient, dann wird er auch weniger beim Bäcker ausgeben. Wer immer die ‚Wirtschaft‘ verteufelt, verteufelt gleichzeitig den eigenen Lebensstandard.

M. E. ist eines der größten gesellschaftlichen Probleme von Ländern wie Deutschland oder Österreich, dass man den Bürgern ‚Sicherheit‘ als das größte Gut eingeimpft hat. Sicherheit und Unternehmergeist können gleichzeitig nicht existieren und wenn der Unternehmergeist sinkt, dann leidet die gesamte Gesellschaft. Die Ich-AGs hatte ich seinerzeit als eine clevere Idee empfunden, sie funktionieren aber nur dann gut, wenn in der Gesellschaft auch auf unterster Ebene Unternehmergeist und Mut zum Risiko herrschen. Wenn man den Menschen einredet, dass sie nur dann die eiskalte und menschenverachtende Wirtschaft überleben können, wenn sie vollkommen abgesichert sind, dann leistet man ihnen einen Bärendienst.

Ich war 38, als ich von meinem Arbeitgeber (Continental Bank of Chicago) von Argentinien nach Chicago in eine sehr hohe Führungsposition zurückversetzt wurde. Dort hatte ich vorher noch nie gearbeitet und kannte außerhalb der Bank keinen Menschen. Nach ca. 6 Monaten (Haus mit Kredit gekauft; Kinder eingeschult) verlor ich aufgrund einer krisenbedingten Umstrukturierung meinen Job. In Österreich hätte man mich möglicherweise als „nicht mehr vermittelbar und/oder Sozialfall“ eingestuft. Das positive und risikofreudige amerikanische Umfeld ermutigte mich, in eine Franchise einzusteigen und eine kleine Firma aufzubauen. Ich entdeckte Fähigkeiten/Talente an mir, die ich vorher nicht gekannt hatte. Das Unternehmen wurde ein großer Erfolg und ich verkaufte es sehr lukrativ 2 Jahre später, um nach Österreich zurückzukehren (das war übrigens dann ein Kulturschock!). Ich bin bis heute noch dankbar dafür, dass ich meinen ersten Jobverlust in einem Umfeld erleben konnte, das einen ermutigte, Eigeninitiative zu zeigen, Eigenverantwortung zu übernehmen und das mir ermöglichte, eigene Fähigkeiten/Talente zu erkennen und zu entfalten!