Sonntag, 29. April 2012

Brief an einen "Liberalen-Hasser"

Es liegt mir nicht daran, zu betonen, dass ich ein Neoliberaler bin. Vielleicht bin ich das gar nicht. Ich habe grundsätzlich ein Problem damit, Menschen in Modelle und/oder Schablonen einzuordnen, weil Menschen doch etwas vielschichtiger sind, als Modelle und/oder Schablonen das zulassen.

In einem völlig anderen Zustammenhang stieß ich kürzlich auf einen Debattenteilnehmer, dem der Schaum fühlbar um den Mund stieg, wenn ich liberale und/oder neoliberale Ideen zur Sprache brachte. Sein Vorwurf was, dass "Liberale es in ihrer Freiheitsliebe nicht gewohnt sind, Dinge zu Ende zu denken". Deswegen machte ich den unten zitierten Versuch, die Dinge etwas weiter durchzudenken (wenngleich auch nicht völlig zu Ende). Es ist mein Brief an einen Liberalen-Hasser.




Hiermit darf ich auf Ihre Breitseite gegen „Liberale“ eingehen. Manchmal kommt mir in Zeiten, wo so viele Ausdrücke mit "…mus" enden, vor, dass weniger Informierte den Neoliberalismus als eine Steigerung des Liberalismus betrachten. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich erst einmal klarstellen, was ich unter „neoliberal“ verstehe. Es ist natürlich unmöglich, komplexe Dinge in wenigen Zeilen darzustellen, aber folgende Definition hat mir bisher noch am besten gefallen:

Zitat Anfang (aus dem Blog ortneronline)
Entgegen einer weit verbreiteten Annahme bedeutet “neoliberal” nicht völlig unregulierten Turbo-Kapitalismus ohne wenn und aber. Ganz im Gegenteil:

“In den 1930er und 1940er Jahren, die von Staatsinterventionismus, Protektionismus, zentraler Wirtschaftslenkung und Totalitarismus geprägt waren, gab es eine Rückbesinnung auf die Ideen des Liberalismus. Aus Sicht der Neoliberalen hatte man mit der Politik des Laissez-faire im 19. Jahrhundert, als der Staat die Wirtschaft weitgehend dem freien Spiel der Marktkräfte überließ, negative Erfahrungen gemacht und sah eine Notwendigkeit zur Neuformulierung. Neoliberale Vordenker sahen die Gefahr, dass ein ungeregelter Markt dazu tendieren kann, durch die Bildung von Monopolen den Wettbewerb aufzuheben, und dadurch seine eigene Grundlage zu zerstören. Markt ist nach Auffassung des Neoliberalismus daher nicht naturwüchsig, sondern muss durch den Staat gewährleistet werden. Im September 1932 umriss Alexander Rüstow auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik das neue liberale Credo: „Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört“.

Zur Gewährleistung des effizienten Einsatzes des Produktivkapitals gehört neben dem Recht auf Privateigentum auch die Haftung. Die Eigentümer von Produktivkapital sollen sich nicht nur die Gewinne aneignen, sondern auch die volle Haftung für getroffene Fehlentscheidungen tragen.

Als das wohl bedeutendste Beispiel neoliberaler Politik gilt die Politik in der Bundesrepublik Deutschland unter Ludwig Erhard (1949–1963 Bundeswirtschaftsminister, 1963–1966 Bundeskanzler). Erhard und sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack, der den Ausdruck „Soziale Marktwirtschaft“ prägte, waren beide Wirtschaftswissenschaftler und hatten regelmäßigen Kontakt zu den führenden Vertretern des Neoliberalismus wie Rüstow, Röpke, Eucken, Böhm und Hayek. ” (Quelle:Wikipedia; inhaltlich vom Autor überprüft).
Zitat Ende

Ich muss immer wieder staunen, wie weit die Menschen des deutschsprachigen Kulturkreises sich heutzutage von den Wurzeln ihres Kulturkreises, ja, ich möchte fast sagen, von den Wurzeln des abendländischen, judeo-christlichen Kulturkreises lossagen möchten. Ich habe es kürzlich faszinierend gefunden, wie man anlässlich der Wahl des neuen deutschen Bundespräsidenten das Thema „Freiheit“, noch dazu Freiheit als möglicherweise größtes Gut, heftigst diskutiert hat.

Seit meiner Pensionierung lese ich wieder sehr viel Geschichte. Sehr viel vergesse ich dank meiner gealterten Gehirnzellen gleich wieder, aber Grundthemen bleiben erhalten. Es ist erstaunlich, was die Menschen seit der Urzeit bereit waren, zu geben und zu opfern, um die Freiheit erreichen. Die Freiheit der Vielen vor der Willkür der Wenigen. Die Debatten, die ich in deutschsprachigen Medien im Zusammenhang mit Gauck verfolgen konnte, waren schon sehr aufschlussreich. Frei nach dem Motto „Natürlich ist Freiheit wichtig, aber…“ Warren Buffett hat eine schöne Antwort auf solche Aussagen, nämlich: „Lassen Sie uns diese Diskussion auf den Friedhöfen von Omaha Beach fortsetzen!“

„Nur der verdient die Freiheit wie das Leben, der täglich sie erkämpfen muss!“ – dieser Satz stammt doch nicht von einem losgelassenen Wilden von der Wall Street! Natürlich setzt Freiheit viele andere Werte voraus wie z. B. die Solidarität des Einzelnen mit der Gesellschaft, Charakter und Integrität des Einzelnen, etc. Natürlich gilt der Satz „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ Auch dieser Satz kommt nicht von einem schwebenden Guru in Indien. Beide Sätze stammen aus unserem eigenen Kulturkreis. Und wer sich verletzt fühlt von der Aussage „Den unnützen Knecht werfet hinaus in die Finsternis; dort wird sein Heulen und Zähneklappern“, der sollte nicht auf brutale Kapitalisten schimpfen, sondern sich mit den Neuen Testament auseinandersetzen.

Ich sage das nur, weil heutzutage oft die Meinung verbreitet wird, als käme alles Schlechte von den amerikanischen Neoliberalen à la Milton Friedman, etc. Woran ein sehr großer Teil der Welt (außerhalb Europas) heute glaubt (und was wir so gerne kritisieren), kommt zu einem erheblichen Teil aus unserem eigenen Kulturkreis. Denken Sie an Kant, Popper, Hayek, Schumpeter, etc. etc. Und unsere eigenen Philosophen haben sich an Plato, Sokrates, etc. orientiert. Trotz allem will unsere heutige Gesellschaft so tun, als gäbe es diese kulturellen Werte nicht? Dann entfernen sich die modernen Deutschen von ihren Wurzeln genauso wie sich die modernen Griechen von den Werten ihrer antiken Vorfahren entfernt haben.

Während meines Studiums las ich Dahrendorfs Buch über die „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“. Es war ein Augenöffner für mich! Ich fragte mich, warum ich in Amerika studieren musste, um ein solches Buch zu lesen. Bei den meisten Österreichern ist dieses Buch genauso unbekannt wie die Werke von Popper, Hayek, Schumpeter, von Mises, etc. (obwohl alle Österreicher waren).

Wenn Sie heute einen Amerikaner fragen – meinetwegen einen ungebildeten, der erst vor wenigen Jahren eingewandert ist -, warum er stolz ist, in Amerika zu leben, dann wird er Ihnen wie aus der Pistole geschossen 2 oder 3 Gründe nennen. „Freiheit“ ist mit Sicherheit einer dieser Gründe. Fragen Sie heute einen gebildeten Deutschen, warum er stolz ist, ein Deutscher zu sein und er wird möglicherweise erst einmal nachdenken, ob man in Zeiten wie diesen überhaupt noch stolz auf sein Land sein sollte.

Jetzt werde ich Ihnen etwas sagen, was Sie wahrscheinlich sehr überraschen wird. Ich habe mir kürzlich in der Mediathek des Bundestags die Debatten über das Rettungspaket angehört. Wer glauben Sie, hat mich am meisten beeindruckt? Gregor Gysi, und zwar um Längen! Die Befürworter – von Merkel abwärts – haben Teile eines Ganzen blind nachgebetet ohne das Ganze zu verstehen (oder es verstehen zu wollen). Ich würde auch vielem von dem, was Frau Wagenknecht in TV-Diskussionen zu den Herausforderungen unseres Wirtschaftssystems sagt, zustimmen. Es steht doch völlig außer Frage, dass Banken primär der Wirtschaft und dass die Wirtschaft primär der Gesellschaft dienen sollte. Es wird aber keine sehr gut funktionierende Gesellschaft geben, hinter der nicht auch eine gut funktionierende Wirtschaft steht und es wird ohne gut funktionierende Banken auch keine gut funktionierende Wirtschaft geben.

Es ist doch romantisch naiv, wenn man denkt, dass die Wirtschaft etwas „da oben“ ist, mit dem man nichts zu tun haben möchte. Jeder von uns ist ein Teil der Wirtschaft (der Volkswirtschaft, möchte ich sagen). In dem Moment, in dem wir uns eine Semmel beim Bäcker kaufen, haben wir einen wirtschaftlichen Prozess in Gang gesetzt. Wir haben die Semmel beim Bäcker A und nicht beim Bäcker B gekauft. Vielleicht weil Bäcker A freundlich ist und Bäcker B nicht. Damit tragen wir möglicherweise dazu bei, dass Bäcker A sehr erfolgreich und Bäcker B bald arbeitslos sein wird. Dann müssen wir uns als „economic agents“, d. h. als Mitglieder der Gesellschaft, Gedanken machen, ob wir Bäcker B Arbeitslosengeld zahlen wollen oder ob wir ihm empfehlen wollen, freundlicher zu werden. Etc. etc.

Es ist bei den Lösungsansätzen, wo ich mich von Gysi, Wagenknecht, etc. unterscheide. Die Verstaatlichung der Banken kann keine Lösung sein. Sorry, könnte schon sein, aber dann müsste der Staat ein weiser und gerechter sein im Sinne von Plato, ein „starker Staat, ein Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört“. Wir haben jedoch – wie in der Demokratie nicht anders möglich – Parteien und sonstige Interessensvertretungen. „Ohne die Partei wäre ich nichts“ hat einmal ein österreichischer Bundeskanzler ganz herzlich ehrlich zugegeben. Sie werden mir kein verstaatlichtes Unternehmen zeigen können, wo nicht früher oder später Parteieninteressen durchschlagen werden. Sie können mir keine Partei nennen, die nicht letztendlich Wähler gewinnen möchte. Sie können mir keinen Politiker nennen, der nicht wiedergewählt werden möchte. Ich glaube nicht, dass Sie mir einen Politiker und/oder eine Partei nennen können, der/die in der Tat nur die Interessen des ganzen Landes vertritt.

So ist halt einmal die Demokratie; anders geht es nicht. Und deswegen braucht man in einer Demokratie Menschen, die die Parteien (und somit den Staat) davor einschränken, sich die Gesellschaft zum Eigentum zu machen (u. a. auch die "Hirne der Bürger"). Anders ausgedrückt, Menschen, die sich darauf konzentrieren, die Freiheit des Einzelnen vor der Willkür von Anderen zu schützen. Oder noch anders ausgedrückt: die Freiheit der Vielen vor der Willkür der Wenigen.



Soweit mein Brief. Die Antwort des Liberalen-Hassers war, dass dies ein Beispiel mehr dafür sei, dass Liberale in ihrer Freiheitsliebe Dinge nicht zu Ende denken wollen.