Im Spiegelfechter-Blog wurde kürzlich ein Artikel veröffentlicht, in dem der ehemalige deutsche Bundeswirtschaftsminister Michael Glos für seine Nähe zum Think-Tank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) kritisiert wurde. Ein kurzer Leserkommentar meinerseits stieß eine rege Kritik von allen Seiten vom Stapel. Statt im Blog mit kurzen Einwänden auf kurze Einwände anderer zu reagieren, habe ich nachstehende Artikel dort veröffentlicht.
Antworten/Reflektionen auf Leserkommentare
Nachdem sich der Sturm über
meine paar Zeilen gelegt zu haben scheint, erlaube ich mir ein paar
Antworten/Reflektionen.
Vorab: nein, ich war mit dem
INSM als Institution nicht vertraut, sondern ich bezog mich auf die Überschrift
„Neue Initiative für die Soziale Marktwirtschaft“. Jede solche Initiative halte
ich grundsätzlich einmal für gut. Wenn die INSM-Initiative die falsche ist,
dann muss jemand mit einer besseren Alternative kommen, statt nur das Falsche
zu kritisieren. Sollte allerdings diese neue Alternative das Wort
‚Marktwirtschaft‘ nicht mehr beinhalten, dann sollte man sich die Initiative
sparen.
Ich habe mir das Plus/Minus
Video angeschaut und auch die Artikel gelesen (danke!). Von wegen
journalistischer Objektivität kann ich da nicht viel erkennen. Vor allem das
Video ist vollkommen einseitig und aufhetzerisch geprägt. Es ist durchaus
legitim, Spiegelfechter als seine „geistige Heimat“ zu betrachten. Nicht
legitim ist es, einem anderen nicht eine andere „geistige Heimat“ zu gestatten.
Es geht um den Wettbewerb der Argumente und nicht um jenen der Vorurteile!
Lennard hat sich die Mühe
gemacht, zu recherchieren, wofür ich wirklich stehe, anstatt in ein paar Zeilen
das hineinzulesen, worauf die Empfangsantennen eingestellt sind. Danke! Ja, ich
bin Österreicher und im Ruhestand (den ich zur Hälfte in der Heimat meiner
Frau, Griechenland, verbringe). Mein Hauptblog ist über Griechenland. Daneben
habe ich 2 kleine Blogs, wo ich hin und wieder über Sonstiges poste. Man hat
offenbar den Artikel gefunden, den ich einmal über den Neoliberalismus geschrieben habe. Dort habe ich in der Tat geschrieben, dass es mir heutzutage
oft leichter fällt, Leuten wie Gysi und Wagenknecht in ihrer Ursachenanalyse
(nicht ihren Lösungsvorschlägen!) zu folgen, als den Vertretern des politischen
und/oder wirtschaftlichen Establishments. Lennard hätte allerdings jenen Satz
zitieren können, der gleich nach meinen Worten über Gysi/Wagenknecht kam,
nämlich:
„Es steht doch völlig außer Frage, dass Banken primär der Wirtschaft und
dass die Wirtschaft primär der Gesellschaft dienen sollte. Es wird aber keine
sehr gut funktionierende Gesellschaft geben, hinter der nicht auch eine gut
funktionierende Wirtschaft steht und es wird ohne gut funktionierende Banken
auch keine gut funktionierende Wirtschaft geben“.
Meine Berufserfahrungen in
Deutschland gewann ich in den Jahren 1974-80 (als Account Manager einer
amerikanischen Bank) und 2003-2010 (als Geschäftsleiter der größten in
Deutschland vertretenen österreichischen Bank). Beide Male mit
Marktverantwortung für Bayern/Baden-Württemberg.
Ich sehe die deutsche
Wirtschaft anders als die Spiegelfechter-Anhänger. Für mich ist die deutsche
Wirtschaft eine Wirtschaft des Mittelstandes und nicht der Großkonzerne bzw. kapitalmarktorientierten
Publikumsgesellschaften (ich glaube, 80-90% der Arbeitnehmer sind im
Mittelstand beschäftigt). Ich habe in den letzten Jahren mehrere hundert
mittelständische Unternehmen und Unternehmer in Bayern/Baden-Württemberg kennenlernen
dürfen. Dort herrscht keine Kapitalmarktkultur! Dort herrscht keine
Besessenheit mit ROE! Dort herrscht keine Abcasher-Mentalität! Stattdessen
herrschen dort Werte: Familieneigentümer, deren Hauptinteresse der Entwicklung
des Unternehmens gilt und nicht der zu erwartenden Dividende. Wo die Loyalität
zweigleisig ist (vom Unternehmer zu den Mitarbeitern und vice versa). Wo man
leidet, wenn Arbeitsplätze nicht gehalten werden können und wo man sich freut,
wenn man Arbeitsplätze schaffen kann. DAS ist für mich die deutsche Wirtschaft!
Lassen Sie mich beispielhaft nur 3 der besten Namen nennen: Trumpf (sehr groß),
Kathrein (groß) und Schreiner (klein). Dieser Mittelstand würde sich von der
Argumentation der Spiegelfechter-Kommentatoren über die ‚Wirtschaft‘ – m. E. zu
Recht – beleidigt fühlen. Wahrscheinlich würden sie sich dem INSM hingezogen
fühlen mit der Absicht, Aufklärung zu schaffen, was die ‚Wirtschaft‘ wirklich
ist. Ich erinnere an mein Churchill-Zitat im Kommentar.
Die unvertretbaren Exzesse des Kapitalmarktes
(vor allem des abstrakten Finanzmarktes) halte ich für ebenso
verurteilungswürdig wie Gysi/Wagenknecht. Allerdings liegt das nicht am System ‚Wirtschaft‘
oder ‚Marktwirtschaft‘. Es liegt – zumindest in meiner Wahrnehmung – primär am
Versagen der Politik (und am Versagen des „Staates als oberste Instanz jenseits
aller Interessensvertretungen“ – dies ist übrigens eine neoliberale Definition
der Rolle des Staates). Ich bin kein „Anbeter“ von Systemen und/oder
wirtschaftlichen/gesellschaftlichen Modellen, weil der Erfolg jedes Systems
abhängt von den handelnden Personen und deren Werteskala.
Ausgehend von den USA (und
wunderbar übernommen von Europa) hat die Politik einem wild-gewordenen, abstrakten
Finanzsektor nicht nur die Zügel überlassen, sondern ihn auch noch gefördert.
Und seit 2008 hat sie sich in unglaublich amateurhafter Weise von den Märkten
vorführen lassen. Man stelle sich vor: Pleitebanker gehen erhobenen Hauptes zur
Politik und verlangen, dass man sie retten müsse. Und die Politik erfüllt den
Auftrag; einfach so! Die korrekte Antwort der Politik hätte sein müssen: „Ja,
wir werden retten. Wir werden aber nicht Eure Eigentümer, Eure spekulativen
Kunden und/oder Eure Manager-Jobs retten, sondern Euer Grundgeschäft. Unsere
Auffanggesellschaft steht schon parat: Ihr könnt am Vormittag Konkurs anmelden
und am Nachmittag läuft das Geschäft ganz normal weiter. Kein Sparer oder
‚realer Kunde‘ wird darunter leiden. Die Eigentümer werden allerdings bluten
(wie es die Marktwirtschaft verlangt) und viele Eurer spekulativen Kunden, die
ja nicht umsonst als ‚professionelle Marktteilnehmer‘ eingestuft werden, werden
ebenfalls einen Beitrag zur Sanierung leisten müssen. Und wir werden prüfen, ob
es irgendwelche Haftungsansprüche gegen die Managements gibt“. So geschehen mit
der Continental Bank of Chicago im Jahr 1984, damals eine ‚too-big-to-fail‘
Bank.
Wie gewährleistet man, dass in
der Wirtschaft Führungskräfte mit der „richtigen“ und nicht der „falschen“
Werteskala das Sagen bekommen? Sicherlich nicht per Gesetz, weil das gar nicht
geht. Aber beachten Sie bitte: niemand ist unabhängig und/oder unverwundbar,
auch nicht Goldman Sachs (und schon gar nicht die Deutsche Bank mit ihrer
Leverage von 40:1!). Goldman würde es heute nicht mehr geben, wäre die
amerikanische Politik/Regierung damals nicht eingeschritten. Und Goldman’s Dank
dafür? Ein präpotentes und teilweise freches Auftreten vor einem Untersuchungsausschuss
im US Congress ein paar Monate später. Besser könnte man nicht demonstrieren,
dass man die Politik/Regierung für ‚nützliche Idioten‘ hält!
Am Ende des Tages hat die
Politik immer den stärkeren Hebel. Die Politik muss allerdings den Mut und das
Rückgrat haben, diesen Hebel verantwortungsvoll und verantwortungsgerecht
einzusetzen. Wenn sie das nicht tut, dann kommt es zu dem, was wir heute auf
den abstrakten Finanzmärkten erleben. Ein Fußballschiedsrichter wird dafür
bezahlt, dass er das Spiel nicht außer Kontrolle geraten lässt und dass alles
möglichst fair und regelkonform bleibt. Die Politik ebenso.
Ich glaube nicht, dass in einer
Deutsche Bank, die einen Herrn Herrhausen als AR-Vorsitzenden gehabt hätte, ein
Vorstandsvorsitzender, dem zum Thema Strategie nichts Anderes einfällt als eine
25%-ige EK-Rendite, sehr lange Vorstandsvorsitzender geblieben wäre (viel mehr:
er wäre gar nicht Vorstandsvorsitzender geworden). Bei einer IHK-Veranstaltung in
Nürnberg Anfang der 2000er Jahre verkündete Herr Breuer (damals Sprecher der
Deutsche Bank) den anwesenden Mittelständlern, dass „die Aufgabe der Deutsche
Bank nicht sein kann, den deutschen Mittelstand zu finanzieren“. Es ist mir
nicht bekannt, dass er dafür von irgendeinem (Wirtschafts-)Politiker zur
Rechenschaft gezogen wurde. Dass vielleicht irgendeine öffentliche Institution
verkündet hätte, dass sie dann eben ihr Geschäft von der Deutsche Bank abziehen
müsse. Dass vielleicht die Republik bei der nächsten Bond-Emission die Deutsche
Bank nicht eingeladen hätte. Etc.
Eine kleine Anekdote: im Jahr
1988 hatte ich den CFO von Siemens-USA, mit dem ich aus meiner ersten
Münchner-Zeit noch befreundet war, zum Abendessen zu Gast in meinem damaligen
Zuhause in Chicago. Wir redeten über das blühende LBO-Geschäft in den USA und
wie dieses funktionierte (der Käufer verwendet die Assets des Kaufobjektes, um
den Kaufpreis zu finanzieren). Ich erwähnte, dass Siemens wohl ein ideales
Kaufobjekt wäre, weil alleine die Cash-Reserven des Konzerns ausreichen
könnten, den Kaufpreis zu finanzieren. Spaßhalber prophezeite ich, dass bis
spätestens 1999 Siemens Ziel eines Buy-out’s werden könnte. Er antwortete empört:
„So etwas wird es in der deutschen Wirtschaftskultur niemals geben!“
Na ja, da hat sich an der
deutschen Wirtschaftskultur seither eine Kleinigkeit geändert. (Wie sich die amerikanische Wirtschaftskultur geändert hat, habe ich einmal in diesem Artikel beschrieben). Aber bitte: doch
nicht wegen des Systems! Das System ist das gleiche geblieben. Es ist die
Werteskala der handelnden Personen, die sich geändert hat. Dinge, für die man
sich vor 30/40 Jahren noch hätte schämen müssen, gehören heute zum Alltag. Es geht
also immer um die Frage: wie entsteht eine Werteskala und wie kann man
gegensteuern, wenn sie sich in die falsche Richtung bewegt. Die Werteskala wird
in der Regel von oben nach unten geprägt („wie der Herr, so‘s G’scherr“). So
ist das auch bei den oben erwähnten Mittelständlern: die (Familien-)Eigentümer
prägen die Kultur. Ich habe keinen Lösungsvorschlag, wie man die bestehende
Werteskala im Kapitalmarkt und im abstrakten Finanzsektor ändern könnte. Ich
bin jedoch überzeugt, dass es ein großer Fehler ist, ein erfolgreiches System
in Misskredit zu ziehen, nur weil die Werteskala der handelnden Personen aus
dem Ruder geraten ist (bzw. weil man sie aus dem Ruder geraten hat lassen!).
Zuletzt zu den „Maden im
Speck“. Hier war ich in der Wortwahl etwas unbedacht. Ich weiß natürlich, dass
der untere Teil der deutschen Gesellschaft vom Aufschwung der letzten Jahre
nicht viel mitbekommen hat (allerdings: es gibt heute ein paar Millionen mehr
Beschäftigte; niedriges Einkommen ist sicherlich ein großes Problem; keine
Arbeit zu haben, ein viel größeres; das weiß jeder, der einmal arbeitslos war).
In einer Gesellschaft, die insgesamt so wohlhabend ist wie die deutsche, dürfte
es keine Armut geben. Man muss aber auch die Fremdsicht im Auge behalten und da
ist es nun einmal so, dass der Rest der Welt nur staunen kann, dass in
Deutschland so viel gejammert wird (nicht nur in Griechenland, wo ich diese
Zeilen schreibe).
Es klingt schon furchtbar, wenn
man Überschriften wie z. B. „Abschaffung des Kündigungsschutzes“, „Anpassung/Senkung
der Löhne“, „Flexibilisierung/Ausweitung der Arbeitszeiten“, etc. in die Welt
posaunt. Da fließt einem doch der eiskalte, menschenverachtende Neoliberalismus
den Rücken runter. Es gibt aber auch Volkswirtschaften, die nach einer Krise
den Weg zum Erfolg gefunden haben und die dann stolz berichten: „Wir haben den
Kündigungsschutz abgeschafft, den Arbeitsmarkt flexibilisiert, Löhne an
Marktniveau angepasst, Arbeitszeiten ausgeweitet, etc.“. Vorausgesetzt, dass
parallel dazu ein ausreichendes Sicherheitsnetz für jene existiert, die
(vorübergehend) nicht am wirtschaftlichen Erfolg teilnehmen können, sehe ich daran
nichts Verwerfliches.
Viele Länder dieser Erde
wundern sich, dass sich Deutschland noch das leisten kann, was sie ihrerseits als
puren sozialen Luxus empfinden. Meines Wissens haben Deutsche eine der
niedrigsten Jahresarbeitszeiten pro Kopf und eine der längsten
Jahresurlaubszeiten weltweit. Formelle Aufhebung des Kündigungsschutzes hin und
her – wir konnten in der Bank niemanden kündigen. Wenn man sich von jemandem
trennen wollte und diesem Jemanden nichts Anderes vorzuwerfen war als komplette
Erfolgslosigkeit, dann musste man einen satten Aufhebungsvertrag einvernehmlich
verhandeln. Unser Stammhaus in Österreich, wo auch nicht gerade a-soziale
Verhältnisse herrschen, war da oft sehr verwundert.
Ich komme zurück auf das
Churchill-Zitat, das ich voll und ganz unterschreibe. Die Wirtschaft ist kein
aggressiver Tiger, den man erlegen sollte und sie ist keine Kuh, die man
andauern melken kann. Wir ALLE sind die Wirtschaft und nicht nur jene, die von
Spiegelfechter-Anhängern als „böse“ eingestuft werden. Der Bäcker lebt davon,
dass beispielsweise ein Schlosser bei ihm Brot einkauft. Wenn man den Schlosser
in seiner wirtschaftlichen Freiheit einschränkt und er weniger verdient, dann
wird er auch weniger beim Bäcker ausgeben. Wer immer die ‚Wirtschaft‘
verteufelt, verteufelt gleichzeitig den eigenen Lebensstandard.
M. E. ist eines der größten
gesellschaftlichen Probleme von Ländern wie Deutschland oder Österreich, dass
man den Bürgern ‚Sicherheit‘ als das größte Gut eingeimpft hat. Sicherheit und
Unternehmergeist können gleichzeitig nicht existieren und wenn der
Unternehmergeist sinkt, dann leidet die gesamte Gesellschaft. Die Ich-AGs hatte
ich seinerzeit als eine clevere Idee empfunden, sie funktionieren aber nur dann
gut, wenn in der Gesellschaft auch auf unterster Ebene Unternehmergeist und Mut
zum Risiko herrschen. Wenn man den Menschen einredet, dass sie nur dann die
eiskalte und menschenverachtende Wirtschaft überleben können, wenn sie vollkommen
abgesichert sind, dann leistet man ihnen einen Bärendienst.
Ich war 38, als ich von meinem
Arbeitgeber (Continental Bank of Chicago) von Argentinien nach Chicago in eine
sehr hohe Führungsposition zurückversetzt wurde. Dort hatte ich vorher noch nie
gearbeitet und kannte außerhalb der Bank keinen Menschen. Nach ca. 6 Monaten
(Haus mit Kredit gekauft; Kinder eingeschult) verlor ich aufgrund einer
krisenbedingten Umstrukturierung meinen Job. In Österreich hätte man mich
möglicherweise als „nicht mehr vermittelbar und/oder Sozialfall“ eingestuft.
Das positive und risikofreudige amerikanische Umfeld ermutigte mich, in eine
Franchise einzusteigen und eine kleine Firma aufzubauen. Ich entdeckte
Fähigkeiten/Talente an mir, die ich vorher nicht gekannt hatte. Das Unternehmen
wurde ein großer Erfolg und ich verkaufte es sehr lukrativ 2 Jahre später, um
nach Österreich zurückzukehren (das war übrigens dann ein Kulturschock!). Ich bin
bis heute noch dankbar dafür, dass ich meinen ersten Jobverlust in einem Umfeld
erleben konnte, das einen ermutigte, Eigeninitiative zu zeigen,
Eigenverantwortung zu übernehmen und das mir ermöglichte, eigene
Fähigkeiten/Talente zu erkennen und zu entfalten!