Hier ist eine sehr markante Persönlichkeitsdarstellung!
Und dies ist der erweiterte Text aus Max Frisch's Stiller:
Und dies ist der erweiterte Text aus Max Frisch's Stiller:
„Ich sehe jetzt ihren verschollenen Stiller schon ziemlich genau: - er ist
wohl sehr feminin. Er hat das Gefühl, keinen Willen zu besitzen, und besitzt in
einem gewissen Sinn viel zuviel, nämlich so wie er ihn einsetzt; er will nicht
er selbst sein. Seine Persönlichkeit ist vage; daher ein Hang zu Radikalismen.
Seine Intelligenz ist durchschnittlich, aber keineswegs geschult; er verlässt
sich lieber auf Einfälle und vernachlässigt die Intelligenz; denn Intelligenz
stellt vor Entscheidungen. Zuweilen macht er sich Vorwürfe, feige zu sein, dann
fällt er Entscheidungen, die später nicht zu halten sind. Er ist ein Moralist
wie fast alle Leute, die sich selbst nicht annehmen. Manchmal stellt er sich in
unnötige Gefahren oder mitten in eine Todesgefahr, um sich zu zeigen, daß er
ein Kämpfer sei. Er hat viel Phantasie. Er leidet an der klassischen
Minderwertigkeitsangst aus übertriebener Anforderung an sich selbst, und sein
Grundgefühl, etwas schuldig zu bleiben, hält er für seine Tiefe, mag sein,
sogar für Religiosität. Er ist ein angenehmer Mensch, hat Charme und streitet
nicht. Wenn es mit Charme nicht zu machen ist, zieht er sich zurück in seine
Schwermut. Er möchte wahrhaftig sein. Das unstillbare Verlangen, wahrhaftig zu
sein, kommt auch bei ihm aus einer besonderen Art von Verlogenheit; man ist
dann mitunter wahrhaftig bis zum Exhibitionismus, um einen einzigen Punkt, den
wunden, übergehen zu können mit dem Bewußtsein, besonders wahrhaftig zu sein,
wahrhaftiger als andere Leute. Er weiß nicht genau, wo genau dieser Punkt
liegt, dieses schwarze Loch, das dann immer wieder da ist, und hat Angst, auch
wenn es nicht da ist. Er lebt stets in Erwartungen. Er liebt es, alles in der
Schwebe zu lassen. Er gehört zu den Menschen, denen überall, wo sie sich
befinden, zwanghaft einfällt, wie schön es jetzt auch anderswo sein möchte. Er
flieht das Hier-und Jetzt zumindest innerlich. Er mag den Sommer nicht,
überhaupt keinen Zustand der Gegenwärtigkeit, liebt den Herbst, die Dämmerung,
die Melancholie, Vergänglichkeit ist sein Element. Frauen haben bei ihm leicht
das Gefühl, verstanden zu werden. Er hat wenig Freunde unter Männern. Unter
Männern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in seiner Grundangst, nicht zu
genügen, hat er eigentlich auch Angst vor den Frauen. Er erobert mehr, als er
zu halten vermag, und wenn die Partnerin einmal die Grenze erspürt hat,
verliert er jeden Mut; er ist nicht bereit, nicht imstande, geliebt zu werden
als der Mensch, der er ist, und daher vernachlässigt er unwillkürlich jede
Frau, die in wahrhaft liebt, denn nähme er ihre Liebewirklich ernst, so wäre er
ja genötigt, infolgedessen sich selbst anzunehmen – davon ist er weit
entfernt.“