Montag, 8. April 2013

Griechenland - einmal anders betrachtet

Vom Film „Alexis Zorbas“ war ich Mitte der 1960er Jahre als Gymnasiast zum ersten Mal fasziniert. 1975 lernte ich meine spätere Frau kennen, eine Griechin aus dem Norden des Landes. 1977 besuchten wir zum ersten Mal gemeinsam ihre Heimat. In den Folgejahren waren wir mindestens 1-mal jährlich auf Urlaub in Griechenland. Seit meiner Pensionierung 2011 verbringen wir fast die Hälfte des Jahres in Griechenland. Und trotzdem – ich bin immer noch am Lernen, wenn es darum geht, die griechische Mentalität zu verstehen.

Letztendlich münden alle Beobachtungen in der Frage: Warum verhalten sich die Griechen so anders als wir Mitteleuropäer? Zum einen muss man festhalten, dass es wohl keine Mittel- oder sonstige Europäer gibt, die so viel Herzlichkeit vermitteln können wie die Griechen. Von dieser Warte her betrachtet kann man schnell auf die Griechen neidisch werden. Zum anderen gibt es wohl nur wenige Mittel- oder sonstige Europäer, die so ‚anders‘ sein können wie es die Griechen oft sind. Zumindest anders, als wir uns das vorstellen und auch erwarten. Wahrscheinlich erwarten wir uns von den Griechen, dass sie sich ähnlich rational verhalten sollten, wie wir es gelernt haben und dann treffen wir auf manchmal irrationale Spontanäität und Impulsivität. Es mag vielleicht keinen Sinn machen, aber es hat allemal Charme.

So fragte ich kürzlich meinen jahrelangen Freund und Griechenland-Mentor, warum sich denn beispielsweise die jungen Griechen, die sich jetzt mit einer Rekordarbeitslosigkeit konfrontiert sehen, nicht um Arbeit in anderen Ländern bemühen, beispielsweise in Deutschland. Mehr hätte ich nicht fragen müssen, um eine umfassende Vorlesung von meinem Freund zu bekommen.

Das liegt, sagte er, an der ‚griechischen Psyche‘. Griechenland sei eine Gesellschaft, so fuhr er fort, die sich von ihrer Geschichte überfordert fühlt. Dazu kommt noch, dass Griechen zumindest bisher eine überfürsorgliche und total verwöhnende Erziehung (vor allem seitens der griechischen Mütter) erfuhren, was nicht unbedingt zur optimalen Entfaltung einer Persönlichkeit beiträgt.

Mein Freund empfahl mir das Büchlein „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ von Nikos Dimou, das 1975 erschienen war. Es besteht aus 193 Aphorismen auf nicht einmal 70 Seiten. Als ich es las, musste ich mich an „Die Österreichische Seele“ von Prof. Erwin Ringel erinnern.

Dimou schreibt (sehr unterhaltsam!), dass die Griechen bis ins 18. Jahrhundert eine Mischung von Türken, Albanern, Slawen, Walachen, etc. etc. waren, die auf relativ primitive Weise in einem kargen Land ums Überleben kämpften. Wenn man sich beispielsweise ein Bild von Athen zur Zeit der Unabhängigkeit anschaut, dann sieht man ein türkisches Dorf mit ca. 4.000 Bewohnern und mit einer Akropolis, die den Türken als Waffendepot diente (angeblich wollte man sogar die Akropolis niederreißen). Und dann – so schreibt Dimou – kamen die Deutschen und Engländer und redeten diesen einfachen Menschen ein, dass sie nicht Türken, Albaner, Slawen, Walachen oder was sonst noch waren, sondern stattdessen die direkten Nachfahren der großen Hellenen!

Dimou leitet daraus das Kernproblem der heutigen Griechen ab – eine Mischung aus einem nationalen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn.

Griechen ‚bewerben‘ sich nicht; sie ‚lassen sich umwerben‘, erklärte mir mein Freund. Griechen ignorieren die Realität, weil – wie Dimou schreibt – die Griechen mit der Realität nicht fertig werden würden. Mein Freund wies mich darauf hin, dass die Griechen in den Schulbüchern ihre Geschichte seit der Unabhängigkeit teilweise umgeschrieben haben. Da lernen die jungen Griechen, dass ihre Vorfahren direkte Nachkommen der großen Hellenen waren, die sich in einem mutigen Befreiungskrieg erfolgreich gegen die Türken durchgesetzt haben. Dass auf dem heutigen Territorium Griechenlands immer nur Griechen lebten; etc. Laut meinem Freund ist das eine gewaltige Dehnung der Realität. Im heutigen Nordgriechenland (Makedonien) war beispielsweise vor dem Bevölkerungsaustausch mit den Türken der Anteil der Griechen nur 45%. Und die Griechen haben, so sagte mein Freund, so Einiges an ethnischen Säuberungen durchgeführt, damit das heutige Griechenland ‚ganz griechisch‘ sein konnte (bis heute weigert sich Griechenland angeblich, eine systematische Erfassung von Minderheiten, die vor allem im Norden ganz gewaltig sind, zu machen).

Mein Freund erklärte, dass sich aus all diesen Strömungen eine nationale Psyche ergibt, die mit dem rationalen Westen sehr wenig und mit der protestantischen Ethik aber schon gar nichts zu tun hat. Interessanterweise gilt das für die Griechen in Griechenland. Sobald griechische Auswanderer beispielsweise Fuß auf amerikanischen Boden setzen, saugen sie buchstäblich über Nacht die amerikanische Arbeitsethik auf.

Mein Freund behauptet, dass ein Griechenland-Kenner vor 40 Jahren sagen hätte müssen: ‚Liebe EU, liebe Griechen – bitte nehmt zur Kenntnis, dass Ihr nicht zusammen passt. Euch trennen Kulturwelten! Ihr werdet Euch gegenseitig zerreiben!‘. Und vor 20 Jahren hätte man sagen müssen: ‚Liebe Griechen, seid vorsichtig mit dem Euro; der könnte Euch umbringen‘. Offenbar hat es in der elitären EU keine Griechenland-Kenner gegeben.

Mein Freund weigert sich, die Flinte ins Korn zu werfen und fatalistisch über Griechenlands Zukunft in der Eurozone zu spekulieren. Deswegen kommt er immer wieder mit Ideen, wie es Griechenland vielleicht doch noch schaffen könnte (wohl wissend, dass solche Ideen wohl nie umgesetzt werden könnten). Trotzdem meint er, dass über kurz oder lang Griechenland wieder zur Drachme zurückkehren wird/muss. Eine deflationäre Anpassung in jenem Ausmaß, das Griechenland benötigt, wäre selbst für das aufgeklärteste Volk eine enorme Herausforderung. In Griechenland wird dadurch – wie man sieht – die Situation immer nur schlimmer. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als wollten die Griechen der Troika beweisen, dass ihre Maßnahmen nicht funktionieren können, nur damit sie als Opfer bestätigt werden.

Mein Freund legt Wert darauf, seine obigen Ausführungen über die ‚griechische Psyche‘ etwas zu qualifizieren. Bis zu einem gewissen Grad wächst heute schon eine neue junge Generation heran. Das sind junge Griechen, die weniger von den Mythen der Vergangenheit, sondern vom Studium an Universitäten geprägt sind. Junge Griechen, die Fremdsprachen hervorragend beherrschen. Junge Griechen, mit denen man ganz vernünftig über Griechenland diskutieren kann, ohne dass sie in narzisstische Wutanfälle gegen die Ausländer (vor allem gegen die Deutschen) geraten. Das sind aber – leider für Griechenland – auch jene jungen Griechen, die ihre Heimat verlassen wollen, um sich anderswo besser verwirklichen zu können.

Zum Schluss erwähnt mein Freund die griechischen Eliten. Das seien Eliten, von denen sich die Eliten anderer Länder etwas abschauen könnten: bestens gebildet; international versiert; höchst kultiviert; Eliten eben. Aber leider sind es auch Eliten, die bisher immer meinten, dass das Land für sie da sei und nicht umgekehrt.

Samstag, 6. April 2013

Enttäuscht vom Hayek-Institut!

Am 3. April wurde auf ATV eine Diskussion zum Thema "Rekordarbeitslosigkeit bei Jugendlichen - Wie entschärft die EU die tickende Zeitbombe?" ausgestrahlt. Zu den Diskussionsteilnehmern gehörten Dr. Stephan Schulmeister und die Präsidentin des Wiener Hayek-Institutes Dr. Barbara Kolm. Wer gehofft hatte, dass Dr. Kolm ein überzeugendes Plädoyer für die Vorteile einer liberalen Marktwirtschaft halten würde, musste sich enttäuscht fühlen. Während Dr. Schulmeister recht leidenschaftlich seine Vision einer besseren Welt darstellte, begnügte sich Dr. Kolm mit modellhaften Standardargumenten. Unten ist als Reaktion darauf mein Schreiben an Dr. Kolm.




Sehr geehrte Frau Dr. Kolm,

als Hayek-Verehrer war ich gestern bei der TV-Diskussion enttäuscht, dass Sie keine starken Argumente für die Causa einer liberalen Marktwirtschaft gebracht haben. Ehrlich gesagt, wenngleich meine Denke fast diametral jener von Dr. Schulmeister gegenübersteht, fand ich ihn trotzdem streckenweise überzeugender in der Diskussion.

Sie wiederholten die klassischen Argumente: Staatsausgaben in der Griff bekommen, Reformen umsetzen und die Wirtschaft nach außen öffnen --- und dann einfach warten, bis Wunder geschehen. Sie übersehen dabei jedoch den wichtigsten Punkt von allen, nämlich die Frage: in wieweit passt dieses Modell zur jeweiligen Gesellschaft. Wenn es passt, dann werden sich Erfolge rasch einspielen. Wenn nicht, dann wird es eher einen Bumerang geben.

Ich erlebte Chile in den frühen 1980er Jahren als Leiter der Niederlassung einer amerikanischen Großbank. Durch meine Position hatte ich Zugang zu und persönliche Beziehungen mit allen wesentlichen Chicago-Boys vom Finanzminister abwärts. Für mich ist das, wofür die Chicago-Boys damals den Grundstein gelegt hatten, bis heute weltweit unübertroffen. Es hat seither auch noch keine chilenische Regierung, weder von links noch von rechts, es gewagt, an den Grundprinzipien dieses Modells etwas zu ändern.

Miton Friedman’s Laborexperiment hätte komplett schiefgehen können. Es wurde m. E. aus einem einzigen Grund eine reine Erfolgsstory: die Chilenen waren von der Mentalität her optimale ‚Versuchskaninchen‘. Die Chilenen sind ein aufgeschlossenes und aufgeklärtes Volk. Sie wollen sich stets verbessern und sind nahezu süchtig, von anderen zu lernen. Sie betrachten es als Auszeichnung und Vertrauensvotum, wenn ausländische Investoren ins Land kommen. Sie machen eine objektive Analyse ihrer Stärken/Schwächen und bauen darauf ihr Geschäftsmodell auf. Etc. etc.

Mein Thema ist Griechenland, weil ich seit knapp 40 Jahren mit einer Griechin verheiratet bin und das Land gut kenne. Deswegen führe ich auch einen recht gut frequentierten Blog über Griechenland. Mit den anderen Problemländern der Eurozone beschäftige ich mich nur am Rande. Ich glaube auch, dass Griechenland nicht wirklich mit anderen Ländern vergleichbar ist.

Man könnte meinetwegen über Nacht den Griechen alle Staatsschulden erlassen, das Budget auf plus/minus Null stutzen und sämtliche Branchen liberalisieren --- es würde die große Veränderung/Verbesserung nicht bringen. Die Griechen sind so ziemlich das Gegenteil von den Chilenen. Unsicher, ob sie wirklich dem rationalen Westen (anstelle des eher mystischen Ostens) zugehören; misstrauisch gegenüber allem, was aus dem Ausland kommt; misstrauisch gegenüber allem, was mit dem Wort Kapitalismus in Verbindung gebracht werden kann; etc. etc. Vor allem: dort, wo sich die Chilenen dafür begeistern konnten, sich aus dem Dreck der 1970er Jahre aus eigener Kraft zu ziehen, neigen die Griechen dazu, sich eher noch mehr in den Dreck zu vertiefen, damit das Unglück größer wird und damit sie andere für ihr Unglück beschuldigen können. Das ist eine Frage der Mentalität.

Bitte beachten Sie, dass es in Griechenland keine Reformation, keine Aufklärung und keine industrielle Revolution gegeben hat. Während die Mitteleuropäer jahrhundertelang fast ununterbrochen Kriege führten und im Zuge dessen fast ununterbrochen ihre Wettbewerbsfähigkeit steigerten, gewöhnte sich die griechische Psyche an ein Untertanensein, wo man am besten dran war, wenn man die Autorität bzw. den Staat hintergehen konnte.

Seit seiner Unabhängigkeit 1832 gab es meines Wissen kein einziges Jahr, in dem Griechenland NICHT auf finanzielle Impulse aus dem Ausland angewiesen war. Das moderne Griechenland wurde nach dem Bürgerkrieg von Gastarbeitern aufgebaut. Von 1950-72 waren die Rücküberweisungen der Gastarbeiter BEI WEITEM die größte Devisenquelle des Landes (wesentlich größer als Fremdenverkehr und/oder Schifffahrt). Als die Gastarbeiterrücküberweisungen abflauten, wurden sie nahtlos von EU-Förderungen und seit dem Euro von billigen Krediten abgelöst. Griechenland hatte nie eine nennenswerte Industrie. Was es jemals davon hatte, wurde durch den Euro weitgehend ausradiert.

Griechenland ist über weite Strecken noch ein Entwicklungsland. Zumindest zwei der vier EU-Freiheiten (freier Güter- und Kapitalverkehr) sind Freiheiten, mit denen die griechische Wirtschaft nicht von heute auf morgen fertig werden kann. Man kann sich natürlich fragen, was ein solches Land in der EU und Eurozone verloren hat, aber diese Frage ist heute zu spät. In Wirklichkeit braucht Griechenland Entwicklungshilfe in weiten Gebieten des wirtschaftlichen, öffentlichen und politischen Lebens. Und zu meiner großen Enttäuschung höre ich von Ihnen nicht viel mehr als die Standardvorschläge des ordentlichen Haushaltens und des Liberalisierens der Wirtschaft.

Griechenland kann nur gerettet werden (und die Kredite an Griechenland können nur gerettet werden), wenn man sich kreative Incentives einfallen lässt, wie man Wertschöpfung ins Land bringt. Die Schulmeisters dieser Welt denken sofort an öffentliche Ankurbelungsprogramme. Das eine oder andere öffentlich finanzierte Infrastrukturprojekt mag schon sinnvoll sein, man muss sich dabei aber bewusst sein, dass durch solche Projekte auch die Guthaben auf Auslandskonten einflussreicher Griechen steigen.

Der Chef der deutschen Allianz-Gruppe hatte vor ca. 2 Jahren einmal den Satz geprägt, auf den es ankommt. Er sagte sinngemäß: „Wir müssen schauen, dass wir einen Teil unserer Auslandsinvestitionen umschichten vom Osten und Fernosten in Richtung Süden“ (sprich: nach Griechenland). Damit ist fast alles gesagt, aber niemand in der EU – auch Sie nicht! -  redet darüber.

Griechenland hat es geschafft, seine internen und externen Konten ins Gleichgewicht zu bringen: das Primärbudget und die Leistungsbilanz verzeichnen bereits geringe Überschüsse. Ergebnis: Arbeitslosigkeit in Richtung 30%. Ein wirtschaftlicher Laie kann daraus schließen, dass die griechische Wirtschaft in ihrer derzeitigen Struktur ihre Bevölkerung nicht ausreichend beschäftigen kann, wenn die internen und externen Konten ausgeglichen sind.

Man werfe einen kurzen Blick auf die griechische Zahlungsbilanz und man sieht, dass die griechische Wirtschaft Geld aus dem Ausland braucht wie der Mensch den Sauerstoff zum Atmen. Da dieses Geld nicht mehr in ausreichendem Maße in der Form von zinstragenden und rückzahlbaren Krediten kommen wird, MUSS es in der Form von Auslandsinvestitionen kommen.

Es wäre ein Leichtes (und äußerst Kostengünstiges!) für die EU, sich Incentives einfallen zu lassen, wie privates Investitionskapital freiwillig nach Griechenland fließen könnte. Man müsste beispielsweise nur Haftungsrahmen à la Kontrollbank für solche Investitionen einräumen. Meinetwegen zum Nulltarif. Die Haftungen müssten das gesamte politische Risiko beinhalten (inklusive das Grexit-Risiko), nicht aber das wirtschaftliche Risiko. Und von den Griechen müsste man verlangen, dass sie mittels Investitionsgesetz den Auslandsinvestoren jene Rahmenbedingungen zusagen (meinetwegen nur in Sonderwirtschaftszonen), die sich Auslandsinvestoren wünschen. Keine besonderen Perks; einfach nur optimale Rahmenbedingungen. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, dann fließt privates Investitionskapital von selbst.

Und zu solchen Überlegungen hätte ich von Ihnen gerne Vorschläge gehört. Das waren die Überlegungen, welche die Chicago-Boys seinerzeit in Chile angestellt hatten. Das wäre wirtschaftliche Aufbauhilfe, die unsere Chancen erhöhen würden, jemals wieder etwas von unserem dorthin geschickten Geld zu sehen.

In diesem Papier hatte ich vor 3 Jahren zum ersten Mal meine Ideen vorgeschlagen. In meinem Blog habe ich es mehrmals aktualisiert. Ich behaupte nicht, dass nur meine Ideen zum Ziel führen, aber ich behaupte sehr wohl, dass es diese Themen sind, mit denen sich Wirtschaftsliberale auseinandersetzen sollten/müssten, statt immer nur modellhafte Standardformeln runter zu beten. Damit ist nur den Schulmeisters dieser Welt geholfen!

Freundliche Grüße

Klaus R. Kastner